Rewilding
Neue Wildnis für Europa
Rewilding
Für ein wilderes Europa
Rewilding – Freiraum für die Symphonie des Lebens
Die Symphonie des Lebens ist ein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Organismen. Egal ob Pflanzen, Tiere, Pilze, Flechten oder Mikroorganismen – sie alle spielen eine wichtige Rolle für ein florierendes Ökosystem.
In Europa ist dieses natürliche Zusammenspiel fast überall außer Kraft gesetzt. Rewilding gibt den natürlichen Prozessen neuen Raum zur Entfaltung. So kann die Vielfalt des Lebens auch in Landschaften zurückkehren, die vorher intensiv vom Menschen genutzt wurden.
Naturschutz oder Rewilding – Wo liegt der Unterschied?
Rewilding schützt nicht gezielt einzelne Arten, sondern lässt den natürlichen Prozessen freien Raum. Echte Wildnis soll entstehen. Damit sich ein funktionierendes Ökosystem entwickeln kann, müssen jedoch erst einmal die nötigen Voraussetzungen geschaffen werden.
Flüssen müssen Raum zum Fließen haben, sodass Kiesbänke und Auwälder entstehen können. Wälder werden aus der Nutzung genommen und dürfen sich frei entwickeln. Für ein funktionierendes Ökosystem müssen oft auch Schlüsselarten neu angesiedelt werden. Diese Arten, zum Beispiel große Pflanzenfresser, gestalten das Aussehen der Landschaft und erschaffen unzählige ökologische Nischen. Sie werden deshalb Ökosystemarchitekten genannt.
Ökosystemarchitekten – Tiere gestalten ihren Lebensraum
Wisente:
der europische Bison
Dieser beeindruckende Pflanzenfresser bevorzugte halboffene Landschaften, bevor er vor den Menschen in die Wälder flüchtete. Seinen bevorzugten Lebensraum kann sich der Wisent auch selbst schaffen.
Anfang des 20. Jahrhunderts war der Wisent fast ausgestorben. Nur 12 Tiere überlebten in Gefangenschaft. Heute gibt es heute wieder mehrere Tausend wilde Wisente in Europa.
Biber:
fleißige Baumeister
Der Biber baut sich seinen Lebensraum selbst. Er fällt Bäume und baut Dämme, um künstliche Seen anzulegen. Von diesen Feuchtgebieten profitiert eine Vielzahl von Tieren.
Durch intensive Bejagung wurde der Biber in großen Teilen Europas ausgerottet. Heute erobert er sein ursprüngliches Verbreitungsgebiet allmählich wieder zurück.
Wasserbüffel:
Rinder im Sumpf
Fossile Funde zeigen, dass der Wasserbüffel noch vor 10000 Jahren in Europa gelebt hat.
Heutzutage werden domestizierte Wasserbüffel im Naturschutz zur Landschaftspflege eingesetzt. Vor allem für Feuchtgebiete eigenen sich die wasserliebenden Rinder. Sie fressen Schilf und schaffen kleine Tümpel, in denen sich zum Beispiel die Gelbbauchunke wohlfühlt.
Wildpferde:
mit wehender Mähne
Das letzte Tarpan, wie das europäische Wildpferd genannt wird, starb 1918 in Gefangenschaft.
Es gibt jedoch einige ursprüngliche Pferderassen, die seinen Platz im Ökosystem einnehmen können.
Wildpferde halten durch Beweidung das Grasland offen und schaffen so Lebensraum für unzählige Arten des Offenlandes.
Auerochsen:
urtümliche Wildrinder
Der Auerochse ist ausgestorben. Zu tausenden zog er einst durch unsere Landschaft.
Doch in domestizierter Form hat er in unseren Hausrindern überlebt. Robuste Rinderassen können deshalb seinen Platz im Ökosystem einnehmen.
Es laufen mehrere Projekte, die den Auerochsen aus alten Rinderassen rückzüchten wollen.
Alles Urwald? – Woher kommt die Vielfalt auf der Wiese?
Nach herkömmlicher Lehrmeinung war Europa ursprünglich von dichten Urwäldern bedeckt. Der Inbegriff urtümlicher Wildnis. Kaum ein Sonnenstrahl reichte durch das dichte Blätterdach auf den Boden.
Heutzutage wird die Vorstellung von flächendeckendem Urwald jedoch zunehmend angezweifelt. Denn offenes Grünland mit Blumenwiesen und den unzähligen von ihnen abhängigen Tieren sind deutlich artenreicher als ein klassischer Buchenurwald. Hat sich diese Vielfalt wirklich erst mit Rodungen durch den Menschen entwickelt? Was müssen wir beachten, wenn wir echte Wildnis erschaffen wollen?
Megaherbivorenhypothese – Europas verlorene Serengeti
Die Megaherbivorenhypothese stellt die Theorie vom flächendeckenden Urwald in Frage. Sie besagt, dass einst Herden großer Pflanzenfresser durch Europa zogen. Wisente, Auerochsen, Wildpferde, Wildesel, Hirsche und Wasserbüffel drängten den Wald zurück und verwandelten große Teile der Landschaft in offene parkähnliche Landschaften mit einer unglaublichen Artenvielfalt. Einst mag es bei uns ähnliche Safari-Bilder gegeben haben, wie wir sie heute von den großen Herden aus der afrikanischen Savanne kennen.
Durch die Wiederansiedlung großer Pflanzenfresser sollen diese strukturreichen offenen Landschaften im Rewilding wieder ermöglicht werden. Rewilding möchte die großen Herden zurückbringen.
Nur Träumerei ? – Beispiele für Rewilding in der Praxis
In ganz Europa entstehen neue Projekte, die die Techniken des Rewildings in die Praxis umsetzen. Von Wisenten in den Karpaten über Wasserbüffel im ukrainischen Donaudelta. Diese Leuchtturmprojekte zeigen, dass sich Rewilding-Projekte bei uns in Europa umsetzen lassen. Domestizierte Nutztiere wie alte Rinderrassen oder urtümliche Pferde ermöglichen auch die Verwirklichung von Projekten in dicht besiedelten Gegenden.
Wölfe im Yellowstone
Welche unerwartete Rolle eine einzelne Tierart für das Gleichgewicht im Ökosystem spielen kann, zeigt die Wiederansiedlung von Wölfen im Yellowstone-Nationalpark.
Durch die Jagd erbeuteten die Raubtiere nicht nur schwache und kranke Tiere und sorgten so für gesündere Herden. Die Wölfe veränderten auch das Fressverhalten der Pflanzenfresser. Wapiti-Hirsch und Co. grasten nicht mehr sorglos durch die Landschaft. Sie vermieden vor allem kleine Täler, in denen die Wölfe sie leicht einkesseln konnten.
Dadurch konnten in den Tälern Büsche und Bäume wachsen. Das zog sowohl Vögel als auch Biber an. Die Biber ernährten sich von dem jungen Grün und nutzten die Bäume zum Bau ihrer Dämme. Es entstanden Teiche für Wassertiere wie Fische, Frösche und Otter.
Die neu gewachsenen Pflanzen entlang der Flüsse verhinderten die Erosion der Ufer. Die Wasserläufe wurden schmaler und blieben in ihrem Flussbett. Es entstanden Tümpel und Flussauen, in denen sich neues Leben ansiedelte.
Die Wölfe hatten so den Lauf der Flüsse im Yellowstone verändert.
Oostvaardersplassen – die Tiere kehren zurück
Oostvaardersplassen ist ein Naturentwicklungsprojekt in den Niederlanden. Auf 5500 Hektar wurde dem IJsselmeer künstlich Land abgerungen. Eigentlich wollte man das Gebiet als Industriegebiet ausweisen – aber die endgültige Trockenlegung gestaltete sich schwerer als gedacht. Also ließ man das Land brachliegen.
Schnell eroberte die Natur das neue gewonnene Land und tausende von Vögeln entdeckten die seichten Tümpeln und Marschen. Hier fanden sie einen idealen Lebensraum.
Ein solches Gebiet muss jedoch gepflegt werden. Denn üblicherweise werden solche flachen Gewässer von Schilf überwuchert, verlanden allmählich und werden schlussendlich zu Wald. Oostvaardersplassen war jedoch zu großflächig, um das Schilf von Hand zu mähen und so zurückzudrängen.
Die Natur wusste sich jedoch zu helfen. Tausende Graugänse entdeckten das Feuchtgebiet und schlugen sich in der Zeit der Mauser die Bäuche mit Schilf voll. So schufen sie einen diversen Lebensraum für viele andere Arten.
Um die Gänse im Vogelschutzgebiet zu halten, wurden Grasflächen als Weideland geschaffen. Die Erfahrungen mit den Gänsen ließen eine revolutionäre Idee keimen. Könnte man dieses Weideland nicht mit großen Pflanzenfressern vor der Verwaldung schützen?
Rothirsche, Konik-Pferde und Heckrinder, eine Abbildzüchtung des ausgestorbenen Auerochsen, wurden im Gebiet ausgesetzt, um die Flächen offenzuhalten.
Oostvaardersplassen wurde 1986 zum Naturschutzgebiet erklärt und ist mittlerweile ein Vogelschutzgebiet mit überregionaler Bedeutung. Wenn auch nicht unumstritten, so zeigte Oostvaardersplassen einen ganz neuen Weg im Naturschutz und ist Leuchtturmprojekt für viele weitere Rewilding-Projekte in Europa.
Knepp Wildlands – Rewilding eines englischen Landguts
Dass Rewilding ziemlich bei null anfangen kann, zeigen die außergewöhlichen Erfolge des Landgutes Knepp in der Grafschaft Sussex in der Nähe von London. Inspiriert von den Erfolgen in Oostvaardersplassen begannen die Besitzer Isabell Tree und Charles Burell ein außergewöhnliches Rewilding-Projekt – auch aus dem Grund, weil sich die konventionelle Landwirtschaft finanziell nicht mehr rentierte.
Sie entschieden sich das Land der Natur zurückzugeben. Dafür wilderten sie neben Tamworth-Scheinen und Damhirschen auch Exmoore-Ponys und English-Longhorn Rinder aus, eine robuste Hausrinderasse aus England. Die Tiere lebten das Ganze Jahr wild auf dem Landgut und konnten die Natur gestalten.
Durch den Einfluss der großen Pflanzenfresser entwickelte sich eine parkähnliche Savannenlandschaft. Schnell stellten sich große Erfolge in Sachen Biodiversität ein. So ist Knepp der einzige Ort in England mit einem wachsenden Bestand an Turteltauben. Hier kommen 13 Fledermausarten vor und der Bestand der Feldlerche hat sich innerhalb weniger Jahre verfünfacht.
Knepp ist ein Vorzeigenprojekt des Rewildings, das jedes Jahr neue Erfolge vorzuweisen hat. Es zeigt, dass Rewilding selbst im dicht besiedelten Süden Englands praktikabel ist. Domestizierte Nutztiere füllen in Knepp die ökologischen Nischen ihrer wilden Vorfahren aus.
Machen wir Europa ein Stück wilder
Rewilding zeigt, dass eine florierende Natur den Menschen als Landschaftspfleger nicht unbedingt braucht. Wir sollten den Mut haben, auch in unsere Landschaften ein Stück Wildnis zurückzubringen. Nur so können wir den Rückgang der Artenvielfalt bei uns vor der Haustür stoppen und eine echte Trendwende herbeiführen.